Wasser

Hochwasserrisiken wurden deutlich unterschätzt

Ein Forschungsbericht beziffert die Schäden auf voraussichtlich über 10 Mrd. Euro. Durch den Einbezug von historischen Daten hätte das Gefahrenpotenzial möglicherweise besser erkannt werden können.
29.07.2021

Im Ahrtal gab es bereits 1804 und 1910 gravierende Hochwasser – sogar schlimmer als in diesem Jahr. Im Bild Bad Neuenahr-Ahrweiler, wo gerade eine Behelfsbrücke statt der weggerissenen Brücke über die Ahr errichtet wird.

 

Um Hochwassergefahren genauer einschätzen zu können, sollten Gefahrenkarten historische Daten einbeziehen. Dafür plädieren Forschende am CEDIM des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Wie kam es zu den Überflutungen, die vor allem Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen betrafen? Wie lassen sich Hochwassergefahren – besonders seltene, extreme Ereignisse – vorab besser abschätzen? Mit diesen Fragen haben sich die Experten befasst und einen ersten Bericht vorgelegt.  

Danach führten enorme Niederschlagsmengen dazu, dass beispielsweise der Pegel an der Ahr seinen bisherigen Rekord von 2016 (3,71 Meter, Abfluss: 236 m³/s) deutlich überstieg. Allerdings fiel die Messstation wegen Überflutzung bei einem Wert von 5,05 Metern (Abfluss: 332 m³/s) aus. Das Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz kalkulierte aus Modellrechnungen für die Katastrophennacht einen Pegel von bis zu sieben Metern. Basierend darauf schätzen die Experten einen Abfluss zwischen 400 bis 700 m³/s.

Extremwetter nehmen zu

Aus meteorologischer Perspektive führten verschiedene Faktoren zu den extrem hohen Niederschlagssummen. „Innerhalb von 48 Stunden fiel in Teilen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mehr Regen, als dort üblicherweise im gesamten Monat Juli niedergeht“, berichtet CEDIM-Sprecher Professor Michael Kunz. Außerdem verstärkte das stark gegliederte Gelände, besonders im Landkreis Ahrweiler mit teils tief eingeschnittenen Flusstälern, den Oberflächenabfluss. Der durch teils kräftige Niederschläge bereits gesättigte Boden verschärfte die Situation zusätzlich.

Um die Überflutungsflächen in den am schwersten betroffenen Gebieten Kreis Ahrweiler und Rhein-Erft-Kreis abzuschätzen, kombinierte das Forschungsteam Satellitendaten mit Luftaufnahmen von Drohnen und Helikoptern sowie Fotos aus sozialen Medien. Nach diesen geschätzten Überflutungsflächen befinden sich in den betroffenen Gebieten knapp über 19.000 Gebäude mit einem Wert von rund 9 Mrd. Euro.

Kombination von Wetterphänomenen

In Verbindung mit empirischen Daten vergangener Hochwasserkatastrophen schätzen die Forschenden einen Gesamtschaden zwischen elf und 24 Mrd. Euro. Dabei sei allerdings zu berücksichtigen, dass die Überflutungsflächen nur einen Teil der gesamten betroffenen Fläche ausmachen.

Ob ein einzelnes Extremereignis oder die Abfolge mehrerer Extreme bereits auf den Klimawandel zurückzuführen sind, lässt sich nach Aussage der KIT-Fachleute weder exakt belegen noch komplett verneinen – zumal es um Ereignisse in kurzer Zeit ging, die stark von lokalen Faktoren beeinflusst sind. Für die großräumigen Prozesse in der Atmosphäre, die zur Entstehung von Extremereignissen führen, gelte jedoch grundsätzlich: Die Kombination aus mehr verfügbarem Wasser in der Atmosphäre infolge der Temperaturzunahme und einer zunehmenden Beständigkeit von Großwetterlagen mit einem sich tendenziell nach Norden verlagernden Jetstream birgt ein hohes Gefahrenpotenzial. „Da für diese Faktoren ein positiver Trend zu erwarten ist, wird auch das Potenzial für extreme Niederschlagsereignisse in Zukunft zunehmen“, erklärt Kunz.  

Historischer Vergleich

„Im Ahrtal gab es bereits in der Vergangenheit zwei besonders bedeutende Hochwasserereignisse, nämlich 1804 und 1910. Ein Vergleich mit historischen Aufzeichnungen lässt annehmen, dass die diesjährigen Werte niedriger einzuordnen sind als die von 1804“, sagt der stellvertretende CEDIM-Sprecher Dr. James Daniell. Für das Hochwasserereignis von 1804 wurde der Abfluss von der Universität Bonn auf ca. 1100 m³/s geschätzt. Das diesjährige Ereignis könnte hydrologisch betrachtet ein ähnliches Ausmaß wie das von 1910 mit einem Abfluss von 500 m³/s gehabt haben.

„Die aktuellen Hochwasserkarten für das Ahrtal basieren derzeit auf einer Abflussstatistik mit Daten seit 1947, da seit diesem Zeitpunkt homogene Messreihen zur Verfügung stehen. Dadurch werden die beiden historischen Ereignisse bei der Gefährdungsabschätzung bisher nicht berücksichtigt“, sagt Dr. Andreas Schäfer, Erstautor des Berichts. So liegt die aktuelle Schätzung eines hundertjährlichen Hochwassers als Bemessungsgrundlage für den Hochwasserschutz für die Ahr bei 241 m³/s.

Abflussdaten statt Pegelstände  

Die CEDIM-Forscher plädieren dringend dafür, in Hochwasser-Gefahrenkarten historische Daten einzubeziehen, auch aus der Zeit vor der kontinuierlichen Messaufzeichnung, um Hochwassergefahren besser abschätzen zu können. „Zwar müssen wir bei den Analysen und Interpretationen der Daten grundsätzlich beachten, dass sich sowohl Infrastrukturen als auch Hochwasserschutzmaßnahmen in den vergangenen Jahren verändert haben. Daher lassen sich die Messwerte direkt schwerer vergleichen, und wir sollten uns weniger auf die Pegelstände fokussieren“, erklärt Daniell.

„Wir können die Pegelstände von 1804 und 1910 als indirekte Anzeiger heranziehen, um Hochwasserjahre zu identifizieren. Messwerte zum Abfluss, über die zeitliche Entwicklung und über die Niederschlagsummen sind für die Interpretation jedoch wichtiger“, führt Daniell aus. „Letztendlich sollten aber beide historische Größen – Pegel und Abfluss – beim Erstellen von Gefahrenkarten einbezogen werden.“ (hp)